Das Projekt entwickelt Möglichkeiten, alternative Wege in der Versorgung von Menschen in psychischen Krisen und mit psychischen Erkrankungen im ländlichen Raum zu gehen. Es leistet einen Beitrag zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung in einer ländlichen Region. Es richtet sich u. a. auch an Menschen, die nur schwer Zugang zu den bestehenden institutionellen psychiatrischen Versorgungsnetzen haben.
Winkel 12 ist eine Kooperation der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Blomberg und der Stiftung Eben Ezer. Es wird von der Lippischen Landeskirche im Rahmen der Erprobungsräume (www.erprobungsraeume-lippe.de) gefördert.
Die Entstehungsgeschichte des Projektes
Entstanden ist das Projekt im Kernteam für die zukünftige Entwicklung des psychosozialen Bereichs von Eben-Ezer. Mit Blick auf die Frage „Warum machen wir das, was treibt uns an?“, entstand folgende Idee: Eine psychiatrische Versorgung von Menschen im ländlichen Raum, die ihnen die Möglichkeit gibt, mit ihren Beeinträchtigungen im gewohnten sozialen Umfeld und Lebensalltag „zu Hause“ zu sein und bleiben zu können.
Der Raum Blomberg und Umgebung liegt abseits der regionalen Zentren Lippes. Aus Vorgesprächen mit vielen Verantwortlichen und Akteuren im Sozialen Bereich und im Gesundheitswesen dieser Region ergab sich, dass es keine optimale Versorgung der Bevölkerung in psychiatrischer Hinsicht gibt. All diese Akteure sahen die Notwendigkeit, dass ein Beitrag zu einer besseren psychiatrischen Versorgung hilfreich und sinnvoll wäre.
Dies führte zur Idee einer möglichst niedrigschwelligen Anlaufstelle, die in ihrer Außenwirkung möglichst unverfänglich und nicht stigmatisierend dargestellt wird, zu schaffen. Von Beginn an stand eine Anlehnung an das „Vivendium Konzept“ – kurz: Kirchengemeinde + Anbieter von Gesundheitsleistungen unter einem Dach – als erstrebenswerte Möglichkeit im Raum. Mit dieser Grundlage sollte in Zusammenarbeit der Stiftung Eben-Ezer mit örtlichen Kirchengemeinden ein Angebot für Menschen mit seelischen Problemen oder in psychosozialen Nöten / Krisen geschaffen werden. Dabei war es wichtig, dass die Befürchtung der Menschen als psychisch krank abgestempelt zu werden, nur weil sie eine Beratungsstelle besucht haben, vermieden wird.
Besonderheiten des Projektes
Die Beratungsstelle kann „en passant“ besucht werden.
Das ermöglicht einen unverfänglichen (Erst-)Zugang zum Versorgungssystem. Dies trägt der Erfahrung Rechnung, dass Menschen in psychosozial schwierigen Lebenssituationen sich in der Mehrzahl scheuen, offizielle, institutionelle Beratungsstellen aufzusuchen. Die Erfahrung zeigt, dass sich häufig genug Menschen in psychischen Krisensituationen eben nicht an eine offizielle – sprich – behördliche, institutionelle Beratung wenden. Grund hierfür ist meist die Angst abgestempelt zu sein und auch in großem Maße die Befürchtung im offiziellen psychiatrischen Versorgungssystem gleich „gefangen“ zu sein.
Vermittlung und kostenlose Begleitung
Auf Wunsch und bei Bereitschaft der Klient*innen werden diese zu offiziellen Beratungsstellen oder Diensten vermittelt oder begleitet. Die Erfahrung zeigt, dass sich Menschen mit seelischen Problemen gerade mit der Bereitschaft sehr schwer tun. Durch die kostenlose Begleitung soll vermieden werden, dass Menschen, nachdem sie sich überwunden haben und für sich Hilfe suchen, während des Antragsverfahrens – alleine auf sich gestellt – entmutigt werden. Die Erfahrungen im ambulanten Bereich zeigen, dass während der Wartezeit auf die Finanzierung einer Betreuung oder der Suche nach geeignetem Leistungserbringer, betroffene Menschen enttäuscht abspringen und auf unterstützende Versorgung verzichten. Sie versuchen dann doch wieder alleine zu Recht zu kommen, was in nicht wenigen Fällen negative Folgen für die Betroffenen haben kann. Dies kommt in unterversorgten ländlichen Regionen mit weiten Wegen deutlich häufiger vor, als in den größeren regionalen Zentren (Einwohner über 50.000) und deren nahem Umland. In den größeren regionalen Zentren ist meist eine größere Dichte von Leistungserbringern zu finden und die Wege sind kürzer. Auch dort ist die Leistungserbringung rentabler, da die Anfahrtswege nicht so lang sind wie auf dem Land.
Theologischer Aspekt
Das Projekt bietet neben der fachlichen Begleitung durch den Lotsen für psychische Gesundheit die Möglichkeit einer gemeindlichen oder seelsorgerlichen Begleitung.
Jesu Umgang mit dem Menschen seiner Zeit zeigt: Krankheit ist keine Strafe Gottes. Gott will vielmehr, dass wir gesunden, dass wir befreit werden von den Einschränkungen unseres Lebens. Gott will, dass wir an Leib und Seele gesunden, dass wir als freie, andere Menschen in Liebe verbundene Menschen leben.
Im Vertrauen auf Gott, der uns als von ihm geliebte Menschen ansieht, können wir Lebensfreude und Lebensmut gewinnen. Unser Vertrauen in Gott gründet dabei in seiner Liebe zu uns, die sich in Jesus Christus allen Menschen gezeigt hat.
Die christliche Gemeinde ist dabei der Ort an dem primär im Gottesdienst aber auch in vielen anderen Zusammenhängen Gottes Liebe zu uns gefeiert wird und an dem wir uns unseres Glaubens, unseres Vertrauens und unseres Auftrags in der Schöpfung vergewissern lassen.
Ein geliebter Mensch Gottes zu sein, macht aus theologischer Sicht den Kern unserer Menschenwürde aus. Diese ist unverlierbar. Darauf Menschen anzusprechen und sie dran zu erinnern, wenn sie Beratung oder Seelsorge suchen, ist der Grundton evangelischer Seelsorge.
Gemeindeentwicklung
Durch das Projekt Winkel 12 besteht die Möglichkeit den Inklusionsgedanken im Gemeindeleben zu stärken. Es werden Menschen in Kontakt mit Kirche / Diakonie kommen, die bisher keinen oder wenig Kontakt hatten. Auch die Kirchengemeinde bekommt auf diese Weise eine Möglichkeit stärker in Kontakt mit diesem Personenkreis zu treten.
Das Thema psychische Erkrankung und Umgang mit betroffenen Menschen wird Teil des Gemeindelebens und somit ein Stück Alltag. Dies trägt dazu bei, Vorurteile und Unsicherheiten im Umgang mit psychisch kranken Menschen abzubauen. Die Gemeindemitglieder haben in psychosozialen Fragen einen Ansprechpartner in den Sprechstunden im Gemeindehaus. Durch Infoveranstaltungen und Schulungen werden die Kompetenzen der Gemeindemitglieder im Umgang mit psychischen Krisen gestärkt. Über ihren Beitrag in der psychiatrischen Versorgung ergibt sich für die Kirchengemeinde zudem eine steigende Bedeutung im Alltagsleben einer ländlichen Region.
In dieser Hinsicht hat das Projekt Winkel 12 Modellcharakter für Weiterentwicklungsmöglichkeiten der Gemeindearbeit und eine Erhöhung des Stellenwertes von kirchlicher Gemeindearbeit im Alltagsleben im ländlichen Raum.